Die Mär vom Glückshormon

Die Mär vom Glückshormon

Die meisten Antidepressiva zielen darauf ab, die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn zu erhöhen. Dass die Mittel bei vielen Patienten wirken, könnte aber ganz andere Gründe haben.

 

Was führt dazu, dass ein Mensch depressiv wird? Häufig hört man folgende Erklärung: Im Gehirn Depressiver herrsche ein Mangel an dem Botenstoff Serotonin. Das bedinge die Niedergeschlagenheit, die bei Depression auftritt – und Medikamente, die die Serotoninkonzentration erhöhen, würden das Ungleichgewicht korrigieren und so die Stimmung der Betroffenen heben. Diese »Serotoninhypothese« stammt aus dem Jahr 1969. Forscher hatten zuvor bemerkt, dass ein Abbauprodukt des Moleküls in der Gehirnflüssigkeit von depressiven Patienten in geringeren Mengen vorkam als bei Gesunden. Zwei Wissenschaftler in Leningrad (heute Sankt Petersburg) in der damaligen Sowjetunion schlugen daraufhin vor, Depression würde ein Mangel an Serotonin zu Grunde liegen. Das Modell ging in die medizinischen Fachbücher ein. Es wird immer noch von vielen Seiten zitiert – und das, obwohl mittlerweile klar ist, dass die verlockend einfache Erklärung falsch ist.

Als die These entstand, gab es bereits erste stimmungsaufhellende Medikamente. Warum sie wirkten, war aber unklar. Sie wurden nicht gezielt als Antidepressiva entwickelt, sondern durch Zufall als solche entdeckt: Bei Arzneimitteltests zur Behandlung von Tuberkulose Anfang der 1950er Jahre bemerkten Ärzte, dass Patienten, die das Präparat Iproniazid erhalten hatten, anschließend besser gelaunt waren. Das Mittel hemmt ein Enzym namens Monoaminooxidase (MAO), das die Neurotransmitter Noradrenalin, Serotonin und Dopamin abbaut. In der Folge steigt die Konzentration dieser Botenstoffe in der Nervenzelle und im synaptischen Spalt – dem schmalen Zwischenraum, der verschaltete Neuronen voneinander trennt. Iproniazid wurde 1958 zur Behandlung von Depression zugelassen. Nur wenige Jahre später verschwand es allerdings vielerorts wieder aus den Apothekerschränken, weil es mitunter schwere Nebenwirkungen verursachte.

Ein etwa zeitgleich entdeckter Wirkstoff, Imipramin, ist besser verträglich. Unter dem Namen »Tofranil« war das Medikament in Deutschland bis 2017 erhältlich. Die Arznei zählt zu der Gruppe der so genannten trizyklischen Antidepressiva (TZAs). Derartige Stoffe hindern Nervenzellen daran, die Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin nach Abgabe in den synaptischen Spalt wieder aufzunehmen. Wie die MAO-Hemmer erhöhen sie somit dort die Konzentration von Serotonin.

 

Neben einer möglichen Ursache für Depression bot die Serotoninhypothese eine scheinbar schlüssige Erklärung, wie Iproniazid und Imipramin das Leiden lindern konnten. In den 1970er und 1980er Jahren versuchten zahlreiche Forschungsgruppen, die Theorie auf ein solides wissenschaftliches Fundament zu stellen. 1980 fasste der schwedische Mediziner Carl-Gerhard Gottfries, damals an der Universität Göteborg, die Erkenntnisse mehrerer Studien zusammen. Überraschenderweise zeigen die Daten im Gehirn von Verstorbenen keinen Zusammenhang zwischen der Menge an Serotonin und Depression.

 

Bei lebenden Menschen lässt sich eine derartige Messung kaum durchführen. Hier bestimmten Wissenschaftler deshalb in der Regel die Konzentration des Neurotransmitters oder seines Abbauprodukts 5-Hydroxyindolylessigsäure im Nervenwasser. Aus diesen Werten schlossen sie dann auf die Serotoninmenge im Gehirn. Die Ergebnisse der Untersuchungen schwankten stark. Zwar maßen einige Forscher niedrigere Werte bei Menschen mit Depression, doch es gab auch gegenteilige Befunde. Ein Team der Universität Kopenhagen um die Medizinerin Annette Gjerris fand 1987 etwa erhöhte Konzentrationen von Serotonin bei Depressiven. Als es den Probanden nach einer medikamentösen Therapie besser ging, testeten die Wissenschaftler erneut ihr Nervenwasser. Wie sich die Patienten fühlten, spiegelte sich allerdings in keiner Weise in den Serotoninwerten wider. Die Autoren der Studie fassten den damaligen Stand der Forschung daher folgendermaßen zusammen: »Bisher konnte keine Studie überzeugend einen Mangel an Serotonin bei Depression nachweisen.«

 

Das hat sich bis heute nicht wesentlich verändert. »Es gibt keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Serotoninspiegel und depressiven Symptomen«, erläutert Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Das körpereigene Serotoninsystem spiele zwar eine wichtige Rolle bei Depression. Die Konzentration des Neurotransmitters im Gehirn schwankt jedoch permanent. »Auch alltägliche Faktoren wie Schlaf und Rauchen wirken sich auf das Serotoninsystem aus«, so Heinz. Dass Serotonin maßgeblich die Gefühlslage beeinflussen kann, ist unumstritten. Heinz nennt als Beispiel etwa Ecstasy: Der Wirkstoff der Droge, MDMA, bewirkt eine erhebliche Ausschüttung von Serotonin und löst so eine euphorische Stimmung aus.

 

Kein Experte glaubt noch an die These

Weitere Fachleute stehen der Serotoninhypothese ebenfalls äußerst kritisch gegenüber. Ulrich Hegerl, Depressionsforscher und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, betont, kein Experte glaube mehr an dieses einfache Modell. »Die Sache ist natürlich viel komplexer als nur ein einziger Botenstoff«, erklärt er. Der Psychiater Tim Kendall, der die britischen Leitlinien zur Behandlung von Depression mit verfasste, formulierte es gegenüber der Wochenzeitschrift »Die Zeit« 2016 sogar noch drastischer: »Diese Serotoninhypothese ist totaler Quatsch.« Die Idee, dass ein einziger Botenstoff für Depression verantwortlich gemacht werden könnte, nennt er »lächerlich«.

Im Wissenschaftsbetrieb spielt die Serotoninhypothese so gut wie keine Rolle mehr. Trotzdem gibt es weiterhin Ärzte, die sie Patienten als Ursache für ihre Erkrankung verkaufen. Es sei schlichtweg bequem, den Serotoninmangel als Erklärung heranzuziehen, vermutet Peter Falkai, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Psychiater und Psychotherapeut Jan Dreher von der Klinik Königshof Krefeld hat denselben Verdacht: »Chemisches Ungleichgewicht im Gehirn klingt einfach gut.« Und nicht nur mancher Arzt, sondern auch die Pharmaindustrie halte teilweise an diesem vereinfachten Bild fest. Mit der Serotoninhypothese lasse sich die Wirkweise etlicher Antidepressiva vergleichsweise simpel und plausibel darstellen. Das ist offenbar ein wesentlicher Grund, warum sie 1969 in Fachkreisen auf viel Resonanz stieß – und weshalb sie noch heute so populär ist. [...]

Quelle: Spektrum.de-depression-mythos-serotonin-mangel

 


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